Locke und die Fußballstiefel

»Locke und die Fußballstiefel«

» Für Hasso, Marcel und Mehmet

Fußball war von klein auf meine Leidenschaft. Ich kickte schon, da ging mir die Pille noch bis zur Kniescheibe. Nie könnte ich erklären, woher diese Begeisterung rührte, einen Ball zu jonglieren, ihn auf dem Gehweg vor mir her zu treiben oder ihn stundenlang gegen eine Garagenwand zu donnern. Vererbte Veranlagung? Nachahmungstrieb? Sicher, meine Brüder waren gute, nein, sehr gute Fußballer – einer spielte mit »Aki« Lütkebohmert (Links im Anhang) in einer Mannschaft und in einer Auswahl mit dem späteren Weltmeister vom 1974, Rainer Bonhof –, aber ich vermute, bei mir war es eine Art präcovidaler Virus. Beinahe alle Jungs meiner Generation erkrankten unheilbar daran. Es gab nichts Wichtigeres oder Schöneres, als zu kicken. Was heißt gab … gibt!

Doch was, wenn der Infizierte ein Hänfling war und sich gegen ältere und damit größere und stärke Jungs behaupten musste? So wie ich. Gekickt wurde damals auf der Straße oder auf irgendeiner Wiese, auf dem roten Aschenplatz oder auf schwarzer Schlacke. Von letzterer zeugen bei vielen heute noch dunkle Hauteinlagerungen. Sichtbare Zeugnisse, dass einem im Spiel nichts geschenkt wurde. Die Größeren ließen uns Kleine zwar mittun, aber sie nutzen ihre körperliche Überlegenheit weidlich aus und wir machten die Flugrolle – häufiger, als uns lieb war! Damals hieß es »If you can’t stand the heat« und so weiter. Wir konnten noch kein Englisch. Wofür der Spruch stand, erfuhren wir auf schmerzhafte Art und Weise: Friss oder stirb! Man lernte, sich durchzubeißen. Wenn man schon nicht stärker war, musste man eben flinker sein, trickreicher – genau wie Locke!

Locke war ein Junge, der seinen Traum vom Fußballspielen nicht aufgeben konnte – gegen alle Widerstände! Ich war dieser Locke, noch bevor ich wusste, dass es ihn gab. Er erblickte das Licht der Welt im selben Jahr wie ich, 1957. Tatsächlich existierte er gar nicht, zumindest nicht im echten Leben. Nur als Fiktion, aber in dieser war er so real wie du und ich. Locke war das literarische Kind von Hasso Damm, einem Jugendtrainer und -betreuer. Er erdachte sich Locke, um anderen fußballverrückten Jungen Mut zu machen. Solchen, die sonst vielleicht ihren Traum zu früh begruben. Mit neun Jahren las ich »Locke und die Fußballstiefel« zum ersten Mal. Danach noch Dutzende Male, immer wieder. Locke war ein Mutmacher, kein Held, aber ein Vorbild! Selbst als Erwachsener, wenn ich mich nach einer Verletzung wieder durch eine Reha quälte, war mir das Buch Krücke und  Hoffnungsschimmer.

Von Zeit zu Zeit, und zuletzt immer stärker, hatte ich das Gefühl, mich bei Hasso Damm bedanken zu müssen. Endlich, es war um die Jahrtausendwende, recherchierte ich seine Telefonnummer. Zu der Zeit war das Internet noch modembetrieben und Google war noch nicht mal ein weit entferntes Wunschdenken. Ich suchte auf meiner KlickTel-CD nach Lockes Erzeuger – gut, dass der Mann nicht Müller, Meier oder Schulze hieß – und wurde tatsächlich fündig: es gab einen Hasso Damm in Ober-Mörlen, einem beschaulichen Ort im Hessischen. Ich kann das seltsame Gefühl kaum beschreiben, als ich die angegebene Nummer wählte und die Klingeltöne mitzählte. Man denkt ja oft, Prominente wie Schauspieler oder der Autor eines Lieblingsbuchs seien so etwas wie Fabelwesen, die realiter gar nicht existieren – und dann melden die sich mit menschlicher Stimme am Telefon. Sensationell! Mir ging’s vermutlich wie Alexander Graham Bell beim ersten Telefonat.

»Entschuldigen Sie bitte die Störung und die vielleicht seltsam anmutende Frage: Sind Sie der Hasso Damm, der ›Locke und die Fußballstiefel‹ geschrieben hat?« Es entstand eine Pause. War es möglich, dass es noch einen Mann mit diesem Namen gab? Wie wahrscheinlich war es überhaupt, dass Hasso Damm noch lebte, nach so langer Zeit? Endlich brach die Stille: »Ja, das bin ich.« Nun wollte er wissen, wieso jemand nach knapp einem halben Jahrhundert sich wegen eines längst vergriffenen Jugendbuchs bei ihm meldete. Tja, erwiderte ich, es dauerte zuweilen eben recht lange, bis ein Mensch sich zu etwas durchringen würde. Im Laufe meines Lebens hätte ich letztlich erkannt, dass man nicht alles bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag aufschieben könne, weil es irgendwann zu spät sei: für Entschuldigungen; einem Menschen zu sagen, wie sehr man ihn schätze oder um einen späten, aber nicht zu späten Dank abzustatten. Er war sichtlich gerührt und gestand ein, dass sich solche Anrufe in letzter Zeit häuften. Dass gestandene Männer ihn kontaktierten und ihm erzählten, welche Bedeutung sein Buch in ihren Leben und Werdegängen gehabt hatte. Auch bei namhaften Persönlichkeiten hatte das kleine Jugendbuch anscheinend einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen: Volker Finke, der Vorgänger Christian Streichs als Trainer des SC Freiburg, las seiner Mannschaft anlässlich einer Weihnachtsfeier aus »Locke und die Fußballstiefel« vor und der bekannte Kolumnist Axel Hacke stellte das antiquarische Buch in einer Fernsehsendung als ein Lieblingsbuch vor.

Meine damals achtjährige Tochter Flavia hatte mich einst nach einem neuen Buch gefragt. Ich hatte ihr immer Gutenachtgeschichten vorgelesen und jetzt verlangte sie nach etwas anderem als Märchen oder »Kleinkinderkram«. Was ich denn so gelesen hätte, wollte sie wissen. Mir fiel mein altes Jugendbuch ein. Da es durch den häufigen Gebrauch schon reichlich lädiert war, hatte ich es kurzentschlossen eingescannt und in allen gängigen Formaten als E-Book gespeichert. War ein ziemlicher Aufwand, aber so konnten wir abends ohne störendes Licht im Bett kuscheln und ich las meinem Töchterchen vom Tablet vor. Es wurde auch ihr Lieblingsbuch – »Papa, noch ein Kapitel« bettelte sie und kamen wir ans Ende des Buchs, dann wieder von vorne. Später verfasste sie über »Locke« sogar ein Referat, für das sie letztlich sogar den Autor besuchte. In ihrer Klasse stellte sie das wohl älteste Jugendbuch vor und konnte dabei auch noch ein Interview mit dem Verfasser vorweisen. Wer kann sowas schon von sich behaupten!

Hasso Damm beklagte sich zwar nicht, aber irgendwie bekümmerte es ihn doch wohl, dass sein Erstlingswerk ihm nicht mehr gehörte. Er hatte die Rechte seinerzeit für einige hundert Mark an einen Jugendbuchverlag abgetreten. Auch störte ihn, dass ein gewisser Uli Potofski sein dürftiges Geschmiere unter dem Titel »Neues von Locke« an das Kind zu bringen suchte, indem er den Eindruck erweckte, es wäre eine Fortsetzung des Buchs von Hasso Damm. Spoileralarm: Das Geld ist in Toilettenpapier sinnvoller angelegt! Zurück zum Original: 2014, zu Hasso Damms 86. Geburtstag, plante ich eine Überraschung. Tage-, wochenlang hatte ich zu den Rechten am »Locke« recherchiert. Ich wollte sie kaufen und an den Autor rückübertragen. Endlich hatte ich die entscheidende Person an der Strippe! Es stellte sich heraus, dass die Rechtsnachfolger der (Periode) Rechtnachfolger keinerlei Interesse am Copyright hatten. »Bitte teilen Sie dem Autor mit, dass die Rechte wieder an ihn übergehen.« Von einer schriftlichen Bestätigung seitens des Verlags sehe man ab, die Wahrscheinlichkeit eines eigenen Interesses gingen gegen Null.

»Herr Damm«, begann ich die Gratulationstour, »ich wollte Ihnen zum Geburtstag die Rechte am Locke schenken, aber leider geht das nicht. Ich habe den Rechteinhaber zwar ermitteln können, aber er wird sie wohl nicht herausrücken.« – Das sei sehr nett von mir, wer denn die Rechte besäße? – »Das ist ein … lassen Sie mich nachschauen … ach, der wohnt ganz in Ihrer Nähe, auch in Ober-Mörlen!« – »???« Seine stumme Verwunderung konnte ich sogar durch den Hörer spüren. »Die Rechte gehören einem gewissen … Hasso Damm. Kennen Sie den vielleicht?« Nun war mein Autor restlos verblüfft – und gleichzeitig sehr angerührt. Mir ging’s kaum anders. Dieses stumme Glück des Mannes war mein persönlicher Dank für die Freude, manchen Trost und einige Einsichten, die mir sein kleines Buch beschert hatte.

Wertvolle Geschenke müssen nichts kosten. Sie sind unbezahlbar. Auch für den Schenkenden.

* * *

Post scriptum (Nachtrag)

Auch ich hatte »Wunderstiefel (s. Bild): Uralte Erbstücke mit Lederschäften bis über die Knöchel, Stahlkappen und genagelten Lederstollen. Mit der Zeit lösten sich Nähte und Brandsohle auf, die Nägel der Stollen kamen durch und scheuerten meine Fußhäute blutig wund.

Meine »Wunderstiefel« (1968)

Irgendwann hatte ich es mir zur Aufgabe gemacht, »Locke« nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. Also scannte ich das Buch, ließ eine Texterkennung darüber laufen und speicherte das Buch mit neuer und alter Rechtschreibung in allen gängigen Formaten als E-Book – für spätere Faksimile-Nachdrucke im originalen 1:1 Format inklusive der originalen Schriftarten, Paginierungen, Bogensignaturen usw. Es war ein immenser Aufwand, aber so konnte ich Hasso Damm meinen persönlichen Dank abstatten für das, was er vielen Jungs und wohl auch Mädchen geschenkt hatte: Trost, Mut, Ansporn, Selbstvertrauen und vor allem – eine faire  Haltung im Sport. Das Buch ist inzwischen in Neuauflagen erhältlich, u. a. hier.

Hasso Damm war irgendwann nicht mehr in der Lage, selbst zu lesen. Ein schlimmes Schicksal für einen Menschen, der die Welt des Wortes liebte. Was blieb mir anderes übrig, als den »Locke« zu vertonen? Also baute ich ein kleines Tonstudio auf und fing an. Ich ging von drei Wochen Arbeit aus, unterschätzte den Aufwand allerdings – ein berüchtigter Kinderbuchautor würde sagen um zehn Prozent, also vier elftel Habeck – und war nach drei Monaten endlich fertig. Leider wurde das Hörbuch nie veröffentlicht. Schade.

Hörbuch-CD

 

Verweise und Beschreibungen:

  • Hörprobe:

  • Spätes Interesse: Artikel über Hasso Damm in der Wetterauer Zeitung:
Interview Hasso Damm, 2014
  • Späte Wirkung: Locke und die Fußballstiefel als Schulprojekt 2014:
Schulprojekt »Locke«
  • Später Ruhm: Der bekannte Kolumnist Axel Hacke spricht in der TV-Sendung SWR-»lesenswert: 3 wahre Bücher aus dem Leben von …« am 23.4.2015 (Link zum Video) – über Hasso Damm und seinen Einfluß auf eine ganze Fußballer-Generation.
Axel Hacke bei SWR »lesenswert«

 

 

 

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