Zettel sind unverzichtbar! Für Ideen. Mal schnell was aufschreiben, weil man den Gedanken sonst wieder vergisst! Geistesblitze, die aufflackern und genauso schnell wieder verlöschen. Da ist man für jeden Schnipsel dankbar, auf dem man einen Einfall festhalten kann. Oft arten diese Schnipsel jedoch in eine Zettelwirtschaft aus und gerade der Aufschrieb, den man sucht, ist unauffindbar. Manche tauchen unvermittelt wieder auf. Meist leider erst dann, wenn man sie nicht mehr braucht. Das ist der Zeitpunkt, wenn Heike fragt, ob ich diesen Fresszettel mit Datum vom vor-vorletzten Jahr noch brauche? – Nein danke, hat sich erledigt! Damit Erinnerungsfragmente, die (noch) nicht für eine ganze Geschichte ausreichen oder die darauf harren, anderswo eingefügt zu werden, nicht dasselbe Schicksal ereilt, hier meine digitale Zettelwirtschaft.
Erziehung
Zu meiner Zeit wurden Kinder noch von den Eltern erzogen: Bitte, danke, Tür aufhalten, aufstehen für ältere Menschen – das war alles selbstverständlich. Kriegte man von der Familie beigebogen, sprich von Eltern, Großeltern, Onkels und Tanten. Die Mädchen machten einen Knicks, die Jungen einen Diener. Ja gut, wäre heute nicht mehr der Bringer. Damals wurde es uns eben eintrainiert, im schlimmsten Falle eingebläut. Und wehe wir vergaßen, höflich zu grüßen oder dass wir gar freche Widerworte gaben, da verstand unsere Mutter keinen Spaß – was da wohl die Nachbarn denken und sagen würden! Bloß nicht ins Gerede kommen, man müsste sich sonst ja schämen vor den Leuten!
Saßen die Erwachsenen zusammen, mussten wir Knirpse raus. »Kinder haben große Ohren«, pflegte man zu sagen und wir wurden angewiesen, ohne Widerworte das Feld räumen. Meistens maulend, denn schließlich wurde der Besuch im Wohnzimmer empfangen, der guten Stube, dort wo Mike Nelson (Abenteuer unter Wasser) oder der ›Daktari‹ im Fernseher auf uns warteten. Zum Trost gab es manchmal vom Besuch 50 Pfennige für ein Eis oder sonstigen Schleck. Wenn uns zu langweilig war, fiel uns bestimmt irgendwas Blödes ein – also blöd aus der Sicht von Erwachsenen. Einmal kamen abends der Halbbruder meines Vaters mit seiner Frau aus Stuttgart zu Besuch. Onkel Peter war mal bei der Fremdenlegion. Was er so erzählte, war anscheinend nicht für Kinderohren gedacht und wir mussten raus. Fernsehen fiel auch flach. Also blödelten mein Bruder und ich so lange in den Ehebetten herum (unsere waren an den Besuch abgetreten), bis mein Vater uns einen letzten Ordnungsruf erteilte, eingeleitet von der rethorischen Frage, warum wir ihn nicht verständen und ob er vielleicht chinesch sprechen würde. Mir lag auf der Zunge, zu sagen: »Keine Ahnung, lass mal hören!«, – aber für einen schnellen Lacher das junge Leben riskieren? Ein Komiker muss wissen, wann der Spaß ein Loch hat, also biss ich mir innerlich auf die Zunge. »Wenn ich nochmal raufkommen muss«, lautete die ultimative Warnung, »erlebt ihr euer blaues Wunder!«.
Natürlich ritt Belzebub uns weiter und wir ließen es nicht gut sein. Aus irgendeinem Grund (vermutlich altersbedingter Verschleiß, das Teil hatte bereits ’48 die Währungsreform miterlebt), brach eine Seite des elterlichen Doppelbetts durch und schlug krachend auf dem Boden auf – rumms! Ich höre meinen Vater noch, als wäre es gestern gewesen: “Seid ihr von allen guten Geistern verlassen? Na wartet, euch werd ich’s eintunken!”. Was nun kommen würde, war uns klar: bei leichteren Vergehen gab es einen Klaps, bei mittleren Arrest im Kabuff (Besenkammer) oder vorzeitiges Zubettgehen und bei schwereren hatte der Arsch Kirmes. Mit dem Teppichklopfer wurde nicht nur der Staub aus dem Teppich geholt. Dieses Mal war’s, obwohl ein schwereres Vergehen vorlag, (gottlob) »nur« die flache Hand. Aus Erfahrung wussten wir, dass bei einer Bestrafung immer der letzte Delinquent den Vorteil genoss, dass mein Vater mit Fortdauer der Strafaktion erstens müder wurde, zweitens milder und ihm drittens die eigene Hand wehtat. So, wie schon die Bibel weissagt: Die Letzten werden die Ersten sein! Also versuchten mein Bruder und ich, dem Zugriff meines Vater so lange wie möglich zu entwischen und den Stier erst einmal müde zu machen – ole! Flink wie wir waren, drehten und wanden wir uns auf der Bettarena wie Matadores. Der Stier würde zunächst allerdings nicht müde, sondern richtig wütend. Er schnaubte vor Zorn! Die Matadores wichen auf die intakte Seite aus und gewannen den Raum hinter der Holzbarriere. Ob die Bettkonstrukteure an unseren Stierkampf gedacht haben, als sie das Fußteil des Betts wie einen Schutzwall bauten? Uns war’s egal, wir nutzen dankbar jede Deckung, die sich uns bot. Jetzt setzte der Stier uns mit gewaltigem Sprunge nach. Wie sich herausstellte, hatten die Ehebettstatiker diese Belastung nicht in ihre Berechnungen einbezogen. Mit lautem Knall gab sich nun auch die zweite Betthälfte geschlagen. Wenigstens konnten meine Eltern und wir nun wieder auf einer Höhe schlafen. Irgendwann erwischte uns der Stier und die Matadoren bekamen ihre Hinterteile versohlt – nicht lange, da war Muttern vor: »Schatz, es reicht!«, rief Elli und Schatz gehorchte. Vermutlich nicht ungern, denn wie gesagt, tut Haue nicht nur den Versohlten weh.
Anschließend versetzten wir gemeinsam die Bettstatt wieder in einen benutzbaren Zustand. Unter die Rahmen wurden provisorisch dicke Wälzer geklemmt (gut, dass wir im Bücherclub waren) und mein Bruder und ich gaben endlich Ruhe. Wenn der Hintern gleichmäßig durchgewärmt war, schlief man schnell ein. Das Provisorium hielt übrigens lange. Sollte der geneigte Leser darum selbst einmal in eine solche Situation kommen, rate ich ihm, keine Lieblingsbücher zu verwenden.
Die Sache mit den Erdbeeren
Die Sache mit den Erdbeeren kenne ich nur aus humorigen Schilderungen in der Familie. Es hatte sich so abgespielt: wir wohnten damals in der Spellener Straße, Hausnummer 33. Zuerst wohnten dort nur meine Großeltern, Paul und Frieda Neumann. Meine Eltern waren nach ihrer Hochzeit 1947 zunächst bei Börgers (Name geändert) einquartiert. Damals bekam man Wohnraum noch vom Amt zugeteilt. Das Licht der Welt erblickten meine Brüder und ich allerdings alle in Omas und Opas Schlafzimmer. Irgendwann wurde eine Wohnung unter ihnen frei und meine Eltern zogen dort ein. Hinter dem Haus waren Gärten und Schuppen. In einem Schuppen mästete mein Großvater ein Schwein. Das wurde irgendwann geschlachtet und in der Waschküche verwurstet. Alles wurde eingekocht, gepökelt oder geräuchert. In den Gärten gab es nicht nur Gemüse und Kartoffeln, sondern auch Obst. Ein Baum mit leckeren Pfirsichen und einige Beete mit Erdbeeren. Meine Brüder interessierten sich allerdings nicht nur für die Pfirsiche. Erstens, weil Erdbeeren früher reif werden als die Kernfrüchte. Zweitens, weil man zum Erdbeerpflücken keine Leiter braucht und drittens, weil verbotene Früchte immer die leckersten sind – die Erdbeeren gehörten nämlich einer Nachbarin.
Meine Brüder waren zwar gierig, aber leider nicht so clever, sich nicht erwischen zu lassen. Die Nachbarin (Name der Redaktion bekannt) beobachtete alles und beschwerte sich prompt bei unseren Eltern: »Eine Unverschämtheit, was ihre Jungs da machen. Einfach einen Nachbarn zu beklauen! Wenn Sie die nicht tüchtig durchhauen, gehe ich zum Schiedsmann!«. Meiner Mutter war das äußerst peinlich. Zum Schiedsmann! Wenn das die anderen Nachbarn mitkriegten! Aber ihre Jungs durchhauen lassen? Mein Vater zitierte seine Söhne herbei: »Stimmt das? Habt ihr die Erdbeeren geklaut?”. Angesichts der erdrückenden Beweislast waren die Übeltäter sofort geständig. »Ab in die Waschküche!«, lautete das Urteil. Meinen Brüdern schwante nicht Gutes. Derlei Vergehen zogen sicherlich eine Bestrafung mit dem Teppichklopfer oder dem Rohrstock nach sich. Die Strafe wurde in der Regel sofort vollzogen, allerdings unter Ausschluss der Öffentlichkeit. »Du bleibst hier oben!«, wies unser Vater die Mutter an. Mutti nickte verstehend. Sein Augenzwinkern war meinen Brüdern entgangen.
In der Waschküche angekommen, wurde erst einmal die Tür abgeschlossen. Meine Brüder mussten sicherlich das Schlimmste befürchtet haben. Wie groß mag ihre Erleichterung gewesen sein, als mein Vater grinsend seinen Mund öffnete: »Passt jetzt gut auf! Ich haue jetzt mit dem Stock auf den Korb mit der Wäsche und ihr schreit jedes Mal, wenn’s klatscht. Wehe, ihr vermasselt es, dann kommt der Korb weg und ich mach Glühwürmchen aus euren Hinterteilen!«. Und los ging’s! Mein Vater peitschte die Wäsche und meine Brüder heulten auf. Dieses Mal wollte jeder der Erste sein! »Aua, Papa, ich tu’s nicht mehr!«, heulten sie jedes Mal auf, wenn der Stock klatschend auf die Wäsche niedersauste. – »Euch werd ich lehren zu klauen!«. So ging’s im ständigen Wechsel: Klatschen, Heulen – Klatschen, Heulen.
Oben stand die Nachbarin und lauschte der »Bestrafung« der Diebe. Unten bettelten meine Brüder um Zugabe: »Papa, bitte-bitte, hau nochmal!«. Sicherlich das erste und einzige Mal, dass sie um mehr Schläge flehten. Irgendwann wurde es der Nachbarin zuviel und sie schickte meine Mutter nach unten, Pardon für die Delinquenten zu erbitten. Dem Gesuch wurde stattgegeben, nicht ohne die beiden zu strengstem Stillschweigen zu vergattern: »Ein Wort von euch, was hier gerade abgelaufen ist und wir sehen uns hier unten wieder! Aber dann …«. Mein Vater ließ bedeutungsschwer offen, was dann folgen würde, aber wie man aus Erfahrung weiß, ist es gerade diese Form unvollendeter Sätze, die eine nachhaltige Wirkung hat. Die beiden bekamen noch ein paar Spritzer Wasser ins Gesicht und gingen nach oben, mit den Händen ihre ›schmerzenden‹ Hinterteile reibend. »Entschuldigung«, schluchzten sie, »das passiert gewiss nicht wieder!«. Ob sie das Klauen meinten oder dass sie sich dabei nicht mehr erwischen lassen würden, ist nicht überliefert. Vermutlich das letztere, denn wie heißt es in meiner niederrheinischen Heimat: »Senge vergeht, der Arsch besteht!«.
TV-Erinnerungen
»Guten Abend, meine sehr verehrten Damen und Herren!«. – So begrüßte Karl-Heinz Köpcke die Zuschauer der Tagesschau. Jeden Abend, weshalb man ihn irgendwann ›Mister Tagesschau‹ nannte – Anglizismen waren schon damals in. »Guten Abend, Herr Köpcke!«. Man mag es glauben oder nicht, eine Großtante von mir grüßte ihn tatsächlich zurück. So war das damals, man achtete auf höfliche Umgangsformen. Wehe wir Kinder vergaßen mal, die Nachbarn zu grüßen. Da bekam man was zu hören! Die Tagesschau war zu jener Zeit eine sakrosankte Institution. Jeder respektierte die Zeit zwischen acht und viertelnach, so wie den sonntäglichen Gang zur Kirche. Auch da gab’s kein Fortbleiben, das musste sein! Die Nichtbeachtung der ungeschiebenen Regeln führten zur gesellschaftlichen Ächtung! Telefonate mussten vor acht erledigt sein, spätestens beim Einsetzen des Intro mit Orgel und Fanfaren: “Taaaa-taaa-ta-ta-ta-taaaaaa” mit ‘nem eleganten Schislaweng hintendran. Habe ich heute noch im Ohr.
Danach kamen die Wetterkarte und einmal im Monat dienstags »Ein Platz für Tiere«. An diesen Tagen durfte ich wegen Professor Grzimek (kann man kaum schreiben, ausgesprochen wurde es ›Dschimeck‹) länger aufbleiben. Länger aufbleiben durfte ich auch für »Was bin ich«, auch einmal im Monat, ebenfalls dienstags nach der Tagesschau. Robert Lemke brachte stets seinen ›Foxl‹ Jackie mit. Tiere im Fernsehen waren damals in. Bei Bernhard Grzimeck waren es Tiere aus seinem Frankfurter Zoo – sofern sie studiotauglich waren! Flusspferde und Giraffen also eher nicht. Besonders beliebt waren die Gepardin Sheeta und ein Schimpanse oder auch sein persönliches Wappentier: Igel. Das Stacheltier zierte jede seiner Krawatten.
Fernsehen war eigentlich immer ein Ereignis. Rekorder gab’s nicht, was man verpasst hatte, war perdu. Zurückspulen gab’s nicht. Es gab ein Programmende vor Mitternacht, danach wurde die deutsche Nationalhymne intoniert – im Bajuwaren-TV zusätzlich die bayerische: »Gott mit dir, du Land der Bayern!«. Danach kam das Testbild und irgendwann Schneegestöber und Rauschen. Spätestens dann wachte man auf, schaltete die Glotze aus und schlief im Bett weiter. Bunte Abende waren beliebt und eine Schau. Peter Frankenfeld und Hans-Joachim Kulenkampff waren Meister in diesem Metier: Schaumeister! English klang’s schon damals viel cooler, weswegen man sie Showmaster nannte und die Schau zur Show wurde. Einzig Köpcke blieb weiter ›Mister Tagesschau‹ und nicht etwa ›Herr Tagesshow‹. Logik hin oder her, there’s no business like showbusiness! Quote gab’s noch nicht, dafür jede Menge Spaß an der Freude – auch an der Schadenfreude: zum Beispiel bei »Spiel ohne Grenzen« mit Camillo Felgen. Den kannte man bereits als Sänger und Moderator bei den »Vier fröhlichen Wellen« von Radio Luxembourg.
Wie erklärt man »Speel zonder Grenzen« oder »It’s A Knockout«, wie die Sendung bei unseren Nachbarn in der Eurovision hieß? Vielleicht so: 2 Städte-Teams, 1 Schwimmbecken, darüber ein Balken, dick bestrichen mit Schmierseife. Eierlaufen über den Balken. Von der Seite versuchten missgünstige Eierlaufverhinderer mittels Sandsack-Pendeln die ›Überläufer‹ vom Balken ins vorgewärmte Nass zu befördern. Die Zuschauer im Stadion (wir am Fernseher nicht minder) johlten vor Vergnügen. Die Läufer wichen den Pendeln mit den kuriosesten Verrenkungen aus, rutschten aus, fingen sich so gerade eben noch – und dann berührte sie der Sandsack auf seinem Rückweg. Flüchtig, so zart wie ein Windhauch, aber doch genug, um wie der berühmte Tropfen zu wirken, der das Fass zum Überlaufen bringt. Der Läufer schwankte, ruderte hilflos mit seinen Armen und ergab sich schließlich der mittels Schmierseife manipulierten Schwerkraft: PLATSCH! Man lachte bis die Seiten schmerzen. Nach drei Minuten wurde gewechselt. Am Ende punktete der mit den meisten Eiern. Wir saßen zuhause im Trockenen und hatten einen Heidenspaß. Natürlich waren die anderen Herausforderungen ähnlicher Natur. Wer glaubte, dass er die besten Chancen auf den Sieg hatte, durfte einmalig vorher einen Joker setzen, das verdoppelte seine Punkte. Manche lernten so, das zweimal Null gleich Null ist und wieder hatten andere den Spaß – Schadenfreude ist halt die schönste Freude.
… wird fortgesetzt …
So schön das Leben lieber Detlev!
So amüsant zum lesen und die Erinnerungen zu wecken. So ähnlich alles auch in Argentinien.