Dinge, die’s nicht gab … oder anders
In meiner Kindheit gab’s kein Farbfernsehen. In Amerika schon, Amerika war schließlich das Land der Technik, aber bis diese Technik in einem Friedrichsfelder Radio- und Fernsehgeschäft auftauchte (und bis wir sie uns schließlich leisten konnten), vergingen Jahre. Doch selbst die Amis hatten noch kein Internet, keine PCs, Eifons, Whatsapp und so’n Gedöns. Nicht, weil sie zu arm waren, gottbewahre nein – die Dinge waren noch nicht erfunden. Amazon hieß damals Neckermann und lieferte schon ohne Prime kostenlos. Die Website hieß »Katalog« und kam per Postbote. Der war ein verlässlicher Beamter und man kannte ihn noch persönlich. Heute sind’s zumeist unterbezahlte Zuwanderer. Klingeln und Wegrennen gab’s auch schon, nur machten das damals böse Buben, heute die verschiedenen Botendienste. Wir sagten dazu Schellemänneken. Bestellt wurde per Postkarte, wenn man nicht anders konnte, zahlte man auf Raten mit seinem guten Namen auf Treu und Glauben. Schufa und Klarna gab’s noch nicht.
Was es noch nicht gab? Vieles, was heute unverzichtbar erscheint. Zum Beispiel TV-Fernbedienungen! Wozu auch, es gab ja nur »Das Erste«! Irgendwann, ich glaube es war anno ’63, kam dann das Mainzer Fernsehen dazu. Das konnten aber nur neuere Geräte mit einem entsprechenden Tuner empfangen – hatte was zu tun mit UHF und VHF. Wen’s interessiert, soll’s googeln (heute geht das, damals nicht, also hört auf mit dusseligen Nachfragen wie “was für Provider hattet ihr damals”). Unser alter »Körting Weltblick« hatte diese Technik jedenfalls nicht drauf. Erst später, für uns drei ungeduldige Jungs unendlich lange Zeit später (da wohnten wir schon in Borken/Westfalen), wurde endlich ein Receiver angeschafft (wir Not-yet-Gedenglishten nannten das noch »Empfänger«), der die ZDF-Signale auf ARD-Kanäle umwandelte. Damit konnte unser Schwarzweißer was anfangen und wir konnten endlich mitreden, wenn unsere Kameraden sich über ZDF-Serien unterhielten. Zuvor war noch reichlich Überzeugungsarbeit nötig: da mein Vater als äußerst sparsam galt, musste ihm erst einer verklickern, dass er ja GEZ für zwei Fernsehprogramme bezahlte, er aber nur eines nutze. Das verdross ihn. Wenn er für etwas bezahlte, dann wollte er es auch haben. Ja, clever waren wir schon.
Als wir noch in Friedrichsfeld wohnten, gingen wir, wenn wir “Zweites” gucken wollten, zu Oma und Opa in die Spellener Straße. Das war zwar nur ein Fußmarsch von wenigen Minuten (wir wohnten inzwischen in der Parkstraße 14), aber ich durfte nie mit. War zu klein und musste vor acht in die Falle. Meine Brüder waren älter und guckten »Vergißmeinnicht«. Thomas Gottschalk hieß noch Peter Frankenfeld und kam nicht samstags, sondern donnerstags. Der Tag des Zweiten war nämlich der Donnerstag. Ich habe keine Ahnung mehr, worum es ging, aber in jeder Sendung rief Frankenfeld irgendwann laut »Herrn Spahrbier« und ein Postbote erschien – in blauer Uniform mit Schirmmütze und einer Tasche voller Postkarten. Walter Spahrbier war wohl der einzige verbeamtete Briefträger, der Überstunden machte und abends austrug.
Was gab’s noch für Größen? Den Kuli und seinen Butler (Martin Jente) kannte jedes Kind, so wie den Otto Höpfner und den Heinz Schenk. Ich erinnere mich noch an Heinz Maegerlein mit dem breitesten Seitenscheitel der Welt (»Hätten Sie’s gewußt«) und den Trenker Luis. Integration wurde bereits geübt, nicht nur mit der Aktion Sorgenkind, auch mit ausländischen Showmastern: Rudi Carrell stand zwar noch nicht »Am laufenden Band«, dafür gab’s einen anderen mit charmantem holländischen Akzent: Onkel Lou – Lou van Burg. Dessen Show »Der goldene Schuss« war einfach »wunnebar«. Studiogäste, aber auch Fernsehzuschauer per Telefon – wer sich das Zweite leisten konnte, hatte wohl auch Geld dafür – konnten sich mit einem »Tell-Schuss« einen Sack voll Geld »erschießen«. Der hing an einem Faden vor einem Apfel, dem man zur besseren Sichtbarkeit des Fadens das Bäckchen angeschnitten hatte. Studiogäste durften direkt an die Kombination aus Studiokamera und Armbrust, TV-Zuschauer hatten eine Telefonverbindung zum Kameramann. Dem wurden die Augen verbunden. Wir befürchteten zuerst Schlimmeres, kannten wir das doch aus dem Film »Die Abenteuer des braven Soldaten Schwejk«, als man Heinz Rühmann füsilieren wollte. Man wollte aber nur verhindern, dass Kameramann heimlich »lünkerte«. Onkel Lou sagte »Kimme-Korn-Ran« und ging in Deckung! Mit den Kommandos »Hoch-Stopp-Links-Stopp-Runter-Stopp-Rechts-Stopp-Schuss« dirigierten die Zuschauer am Bildschirm den Kameramann und der die Zieloptik. Meistens vergaßen die Tele-Schützen zwischen den Kommandos »Stopp« zu sagen und das Visier fuhr übers Ziel hinaus. Wir kommandierten lauthals mit und johlten jedesmal ob deren Schusseligkeit.
Bevor jedoch ein Studiogast zum Tell…, nein, zum Geldschuss durfte, musste er sich seiner Konkurrenz entledigen. Auch das mittels Bolzenschuss, aber (gottlob) nicht im direkten Nahkampf. Damals ging man noch zivilisiert miteinander um, man schoss auf Hunderter-Scheiben. Anschließend stöckelte eine dürre Assistentin (nein, nicht Heidi oder Mischell) vor die Kamera und verkündete, dass der Kandidat neunundneunzig Punkte hätte. Die anderen dachten leise »Scheiße« und schieden aus. Also aus der Runde, nicht vor der Kamera.
Irgendwann war Onkel Lou weg (irgendeine außereheliche Nebentätigkeit mit einer Assistentin) und Vitello Tonnato übernahm … nein, sorry, der hieß Vico Torriani und war (passend zu Tell) Schweizer. Ab da hieß es »Peter, den Bolzen«. Vico hatte auch einen Ce-Ha-Sprachfehler, aber der holländische klang schöner. Ohne Onkel Lou war’s einfach nicht mehr wunnebar. Mit dem Zweiten wird’s halt doch nicht immer besser (Ehepartner ausgenommen).